Das Interview findet mit Sebastian Novak als Fragesteller und Brigitte Züger als Antworterin statt. Sebastian ist Faszienforscher und Brigitte Cantienica®-Instruktorin und Tanz- und Bewegungstherapeutin. Beide befassen sich mit der Bewegung und die beiden Blickrichtungen finden ihre Gemensamkeiten dort, wo der Körper am gschmeidigsten ist: Bei den Faszien.
Das Interview mit Sebastian mit denselben Fragen an ihn ist hier zu lesen
1. Brigitte, stelle Dich bitte kurz den Lesern vor, wer bist du und was machst du?
Ja, gerne: Ich bin Tanz- und Bewegungstherapeutin, lebe in Basel, wo ich auch geboren wurde, und arbeite dort seit 2012 in meiner eigenen Praxis, nachdem ich 18 Jahre Erfahrungen in der Neuro- und Rheumarehabilitation sammeln durfte. Dort habe ich eine Tanztherapiestelle aufgebaut und war zehn Jahre in leitender Position angestellt. Mein grosses Thema, in welches ich in meinen über 35 Jahren Arbeitserfahrung hineingewachsen bin, ist Embodiment, die Verkörperung. Dafür unterrichte ich einerseits die CANTIENICA®-Methode, anderseits verhelfe ich als Tanztherapeutin meinen KlientInnen dazu, ihre Körperintelligenz zu aktivieren. Sie ist wesentlich intelligenter als alles, was wir uns ausdenken können, kennt die Lösungen, die der Körper braucht, und zeigt auf, was stimmig und richtig für uns ist. Dann unterrichte ich Tanz. Da ich unter Tanz die erlebte Bewegung und die gelebte Vitalität verstehe, vermittle ich keine Tanzschritte, sondern führe die SchülerInnen zu ihrem Körpererleben und vermittle ihnen die Freude an ihrer Vitalität und an ihrem authentischen Ausdruck.
Mich beschäftigt die folgende Frage bereits seit mehr als 30 Jahren: Wie der Körper sein muss, damit wir gut darin und gerne mit ihm leben können. Darauf baut sich die Entwicklung meiner Arbeit, angereichert mit meinen Forschungen und aus den Erfahrungen als CANTIENICA®-Lehrerin und Tanztherapeutin auf. Unser Körper kann ein “Wohlkörper” sein, wenn unsere Bewegung die Regeln der Anatomie und die Regeln der Schwer- und Fliehkraft beachtet. Ausserdem sind unsere Emotionen wichtig, denn sie sind sowohl unsere Triebfedern als auch unsere Ressourcen, um uns auszudrücken, um zu handeln und uns mit uns selber und in Beziehungen zurecht zu finden. Unterdrücken wir sie, unterdrücken wir auch unsere Lebens- und Ausdruckskraft, Beziehungen verlieren an Lebendigkeit und unsere Handlungen werden schal und motivationslos. Es fasziniert mich, dass der Körper ein ihm immanentes Bedürfnis hat, sein Gleichgewicht zu schaffen oder immer wieder herzustellen. Wenn wir dagegen “arbeiten” resp. uns dagegen wehren, wird der Körper schnell zu einem “Unwohlkörper” und wir sträuben uns dagegen, “in ihm zu wohnen”.
2. Wie bist du dazu gekommen, Therapeutin der CANTIENICA®-Methode zu werden? Hast du dich bereits davor mit dem Thema Bewegen befasst?
Während vieler Jahre habe ich sporadisch die Beiträge von Benita Cantieni, die Begründerin der CANTIENICA®-Methode, gelesen. Mich faszinierte das Phänomen, dass mit sanfter Körperarbeit viel erreicht werden kann. Vor sechs Jahren dann habe ich mit der Ausbildung angefangen. Mit meinem Hintergrund als Bewegungslehrerin, Tänzerin und Tanztherapeutin erkannte ich bald, dass die CANTIENICA®-Methode wertvolle Beiträge sowohl für die korrekt bewegte Anatomie, als auch für die Verbindung von Gedanken und Körper, also Embodiment, sowie für die Kultivierung der inneren Haltung als Grundlage für die äussere Bewegung haben kann. Meine Schülerinnen werden, wenn sie regelmässig und längerfristig trainieren, selbstkompetent und bekommen einen liebevollen Umgang mit sich selbst. Die CANTIENICA®-Methode ist demnach, wenn sie korrekt vermittelt und angewendet wird, äusserst – ja, manchmal verblüffend – effektiv.
3. Erkläre bitte in kurzen Worten, worum es bei der Methode geht und welches Ziel sie anstrebt.
Die Methode richtet das Skelett aus, damit die tiefe Skelettmuskulatur optimal arbeiten kann, damit sie ihre Aufgabe – Halt und Stabilität, Aufrichtung und Ausrichtung von innen nach aussen – übernehmen kann. Diese Stabilität ermöglicht es den Gelenken, frei zu werden, damit sie ihrer Aufgabe – der Beweglichkeit – nachkommen können. Die grossen Muskeln bekommen damit die Freiheit für den Ausdruck von Kraft, Vitalität und Aktion, denn sie müssen nicht (mehr) für Halt sorgen, was auch absolut nicht ihre Aufgabe ist. So erfüllt sich das Ziel von CANTIENICA®, den Körper in seine Bewegungsnatur zurückzuführen, so wie er “gedacht” ist und wir ihn als Kind bereits erlebt haben.
Die Skelettausrichtung findet sehr subtil statt, wir nennen es “Knochendenken”. Dafür hilft uns die Schwerkraft ausserordentlich: Der englische Ausdruck “falling into place” kommt diesem Prinzip sehr nahe. Danach folgt die Aktivierung der Haltemuskulatur. Sie benötigt lediglich kleine Bewegungen, denn sie hat kaum eine Hebelwirkung, weil sie tief und skelettnah ist. Diese Mini-Bewegung wird auch Mikrobewegung genannt. Das Faszinierende an Mikrobewegung ist, dass sie aus der Vorstellung entsteht. Es ist bekannt, dass Vorstellung bereits 10 % korrekte Muskelaktivierung in Gang setzt; dies wird dann eben als Mikrobewegung bezeichnet. Die CANTIENICA®-Methode macht sich das zu 100 % zunutze. Sie funktioniert deshalb, weil das visuelle Zentrum und das motorische Zentrum im Gehirn miteinander verwoben sind. Wir üben uns also in der klaren Vorstellung der korrekten Anatomie, machmal auch mithilfe von Anatomiebüchern, was meine SchülerInnen total lieben und was uns alle fasziniert. Damit wird die anatomisch korrekte Bewegung im Gehirn initiiert und sobald die dafür notwendigen Synapsen im Gehirn aktiviert worden sind, reagieren auch die Muskeln und wir spüren, wie wohltuend und leicht die korrekte Bewegung ist. Der Vorteil davon ist, dass wir dadurch vermeiden, alte und evt. disfunktionale Bewegungsmuster zu wiederholen, und dass wir mit der Vorstellung das neue (oder ursprüngliche!) Muster in den Körper implementieren. So kann der Körper zurück in seine ihm zugeordnete Bewegungsharmonie kommen: der Wohlkörper entsteht.
Das Konzept der CANTIENICA®-Methode ist auf Wohlspannung ausgerichtet. Wohlspannung heisst, dass jeder Muskel im Verbund mit allen anderen Muskeln, die für eine Bewegung oder einen Bewegungsablauf benötigt werden, arbeiten kann. Das ist ein wesentlicher Teil unserer Bewegungsnatur – eine sehr raffinierte Methode des Körpers, ähnlich wie die Wirkung eines Teams, in welchem die Mitglieder dann gut zusammenarbeiten, wenn jedes Teammitglied seine ihm bestimmte Aufgabe übernimmt, und sich die Teammitglieder so in die Hand arbeiten: Keiner macht zu viel, keiner macht zu wenig. Das Resultat ist eben die Wohlspannung oder: entspannte Bewegung – bewegte Entspannung. Es ist kaum vorstellbar, wieviel Kraft dieses Prinzip hervorbringt, da alles fliesst und keine Widerstände produziert werden. Die Muskulatur wird nicht überstrapaziert, kann aber auch nicht erschlaffen, sondern sie entfaltet ihr ganzes Potential. Wir entfalten mit ihr unser ganzes Bewegungspotential, lustvoll und leicht, kraftvoll und beweglich, geschmeidig und gegenwärtig.
Das Training hat höchst präventiven Charakter, es kann auch, im Einzelsetting angewandt, kurative Wirkungen erzielen. Die meisten Menschen kommen ins CANTIENICA®-Training, weil sie das Körper-Wohlgefühl kultivieren wollen. Sie erwähnen, wie es ihnen fehlt, wenn sie längere Zeit aussetzen müssen.
4. Wir haben bereits über Skype ausführlich gesprochen. Beschreibe bitte in deinen Worten den Stellenwert der Faszien in der individuellen Arbeit am Bewegungsapparat.
Die Arbeit mit den Faszien habe ich erst mit der Zeit entdeckt. Das war die Zeit, in welcher viel in den Medien über Faszien gesprochen worden ist. Die Tatsache, dass ungefähr 80 % der Schmerzen (und wir leben leider in einer “Schmerzkultur”) auf verklebte Faszien zurückzuführen seien, hat mich doch nachdenklich gestimmt und mir den Stellenwert der Faszienarbeit vor die Augen geführt. Das anschauliche Material z. B. von Prof. Schleipp und auch die systematische Forschung, wie sie Thomas W. Myers und seine Mitarbeiter machen, unterstützen mich dabei. Im CANTIENICA®-Training setze ich die Faszienzüge, wie sie Thomas Myers beschreibt; ein ich beziehe dieses System auch mithilfe der Vorstellungen parallel zur klassischen CANTIENICA®-Arbeit mit ein. Meine SchülerInnen können mittlerweile an ihrem Körpergefühl erkennen, ob wir gerade an Faszien, an der Ausrichtung des Skelettes oder an der Wohlspannung der Muskulatur arbeiten. Das Resultat der Verbindung ist verblüffend. Der Wohlkörper zeigt sich – wie könnte ich das sagen – vielleicht: in seiner strahlenden Form.
5. Was sind, deiner Erfahrung nach, die Auswirkungen einer positiven körperlichen Veränderung, sowohl körperlich als auch psysisch?
Zunächst entsteht eine sehr hohe körperliche und geistige Präsenz, eine Gegenwärtigkeit und damit verbunden eine ausserordentliche Gelassenheit. Das hat damit zu tun, dass der Körper nicht “mit Schmerzen oder mit einem ‘Unwohlkörper‘ reklamiert”, was sich auf die Stimmung und sogar auf die Emotionen auswirken kann. Gute Stimmung und angenehme Emotionen entstehen dabei. Die Arbeit, die wie oben erwähnt in grossem Mass die innere Haltung anspricht, hat zur Folge, dass der inneren Haltung vermehrt Beachtung geschenkt wird. Sie ist insofern wichtig, da sie in grossen Mass bestimmt, wie wir uns im Leben verhalten und wie wir handeln. Wir übernehmen Verantwortung für uns und, daraus herauswachsend, auch im Umgang mit unserer Umwelt.
Eine wichtige Auswirkung ist, dass CANTIENICA®-Praktizierende lernen, die Prinzipien in ihrem Alltag einzusetzen. Das heisst nicht, dass sie zu Hause üben, sondern dass sie die Ausrichtungen mental-körperlich – ich nenne das “Denkfühlen” – aktivieren, wo auch immer sie sind: an der Bushaltestelle, beim Kochen, im Büro (ganz wichtig!), beim Einschlafen, Aufwachen etc. Ich persönlich erlebe hier viel Interessantes und Wohltuendes. Durch die Wohlspannung reagiert der ganze Organismus, das Nervensystem, der Hormonhaushalt, was zum Wohlkörper auch im täglichen Leben beiträgt.
6. Hältst du es für ratsam, einen Körpertherapeuten wie Dich und mich auf dieser körperlichen Reise hinzuzuziehen oder kann darauf auch verzichtet werden?
Absolut, denn alleine aktiviert man in der Regel die alten Muster. Allerdings ist es wichtig, dass der Therapeut die Selbstkompetenz in den Vordergrund stellt, ansonsten besteht die Gefahr einer Therapieabhängigkeit.
7. In unserer Gesellschaft wird oft kritisiert, dass es keine Individualität mehr gibt, Authentizität wird immer weniger.
Wie siehst du das? Was macht deiner Meinung nach eine authentische Person aus und welchen Wert kann hier die eigene körperliche Arbeit bereitstellen, mit welcher Methode auch immer?
Körperarbeit ist immer Arbeit an der Authentizität. Ich gehe sogar so weit, dass ich sage, dass wir die Authentizität verlieren, weil wir unseren Körper als erlebten Körper mehr und mehr verlieren, oder das einfach nicht gelernt wird in unserer Kultur. Wir sind zu schnell und auf TUN ausgerichtet. Zeit für Da-SEIN ist rar, aber dennoch ein grosses Bedürfnis. Meine SchülerInnen geniessen es in der Stunde, wenn sich ein Gefühl des SEINs einstellt: Das Sein mit sich im Körper, das ist dann das Tor zur Authentizität. Das ist keine Zeitverschwendung, sondern Zeitgewinn.
8. Was sind deine Pläne für die Zukunft?
Meinen CANTIENICA®-Stil weiter zu entwickeln. Das passiert eigentlich in jeder Stunde, da ich individuell auf meine SchülerInnen reagiere. Sie kommen mit ihren Anliegen und Fragen, die das Wertvollste für meine eigene Entwicklung sind. Als Tanztherapeutin habe ich ebenfalls Pläne, aber diese zu erläutern, würde den Rahmen dieses Interviews sprengen und sie sind im Moment auch noch nicht spruchreif.
9. Wo können interessierte Leute dich finden?
Via meiner Website, man darf mich anmailen: info@zoe-tanz.ch, ich bin auf Facebook mit dem Cantienica-Studio-Basel und der Praxis für Tanz- und Bewegungstherapie erreichbar.
